„Dazwischen noch etwas Pogrom“? Zur Kritik an der Form.

Die Kritik, die Twitteruser @trainingsjacke gestern morgen äußerte, ist, zumindest in Fragen von Journalisten, schon einige Male formuliert worden. Sie ist natürlich legitim, wir haben uns vorab Gedanken darüber gemacht und uns dennoch für das Format entschieden.

@9Nov38 ist insofern ambitioniert, dass wir uns, im Gegensatz zu bspw. @9Nov89live, ein Thema ausgesucht haben, in dem es um unermessliches Leid, menschliche Abgründe und letztlich den Weg zum absoluten Zivilisationsbruch geht. Uns ist klar, dass einige Menschen deswegen die etablierten Wege der Information und Vermittlung bevorzugen. Aber mit Büchern, Zeitungsberichten und Fernsehdokumentation erreichen wir einige Teilöffentlichkeiten nicht mehr, und sie haben mediale Grenzen, die Twitter nicht hat. Filme von Guido Knopp haben mehr als 140 Zeichen, aber sie können keine Echtzeit bieten.

Der legitime Vorwurf ist im Kern, dass wir die Abgründe der Pogrome zu banalen Häppchen verkürzen, die zwischen Witzchen und Werbung eingestreut werden. Das können wir nicht verhindern, denn jeder ist für seine Timeline selbst verantwortlich. Wir können nur versuchen, durch sprachliche Mittel eine Ernsthaftigkeit zu erzeugen, die sich auf unsere Follower überträgt. Jeder, der einmal auf „Folgen“ geklickt hat, hat dies freiwillig getan, und damit ist ein gewisses Grundinteresse als gegeben zu betrachten. Gestern haben etwa 1.000 Menschen die Postkarte des Vaters von Herschel Grynszpan im Volltext angeklickt. Wir können nicht sicher sein, dass nicht auch einige Leute aus der merkwürdigen Lust nach faktisch korrektem Grusel darunter sind, aber wir können es auch nicht ändern. Und gegenüber der mittlerweile wichtigsten Vermittlungsform, dem Fernsehen, haben wir im Vergleich zu Zapping und Re-Enactment keine größere Gefahr der Banalisierung.

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6 Comments

  1. PingbackNotizen aus dem Barschenweg | Heute vor 75 Jahren…

  2. Ich hatte da auch meine Bedenken, bevor ich dennoch auf „Folgen“ klickte.

    Ich finde, gerade das unvermittelte „Einbrechen“ der Tweets von @9nov38 in eine Timeline aus tagesaktuellem Kleinkram, Gags und Mini-Skandalen zeigt in dramatischer Weise, wie einschneidend die Ereignisse damals waren.

  3. Die tweets sind beinhart und erschreckend, so zwischen Wochenendewitze und Fußballgelaber. Wirklich sehr gut das über Twitter zu machen!

  4. Ich nehme Sie als Chronisten der Geschehnisse um den 9. November 1938 wahr, die Twitter dazu nutzen, die von Ihnen recherchierten Informationen und Quellen all jenen, die möchten, auf innovative Weise zugänglich zu machen. Denn Sie twittern ja nicht „nur“, Sie verlinken Material und begleiten die Aktion auch wissenschaftlich mit Blogeinträgen und künftig mit einer Datenbank, welche die Tweets mit Literaturangaben verknüpft.
    Der performative Charakter Ihrer Initiative zeigt etwas, was sich in analogen Texten so genau nicht abbilden lässt, nämlich die unglaubliche Beschleunigung der Vorgänge. Dann bewirkt er auch das, was Panagrellus als „Einbrechen“ bezeichnet hat. Ähnlich der Stolpersteine machen Sie zudem immer wieder auf auf Einzelschicksale aufmerksam. Dass 140 Zeichen nicht notwendigerweise bedeuten, Dinge würden banalisiert, zeigt ein Blick auf Ihre Tweets.
    Ich verstehe Ihre Initiative auch als eine Form der Erinnerung an die Reichspogromnacht – neben anderen, als eine Form der Geschichtsdarstellung – neben anderen. Die Frontstellung Twitter versus Aufsatz etc., die in einigen Kommentaren durchscheint, irritiert mich.
    Ihre Initiative fordert letztlich dazu auf, sich auseinanderzusetzen und sie liefert dazu reichlich Material. Vor der Arbeit und dem Engagement, das dahintersteckt, habe ich große Hochachtung. Danke!

  5. Man kann es auch andersherum sehen @9nov38 zeigt uns wie ein Progrom heute ablaufen würde – daran erinnernde Ereignisse gab es ja in letzter Zeit leider wieder.

    Und ich stelle mir vor, wie die ganzen Spass-Twitterer in so einer Situation reagieren würden? Würden sie – nachdem jahrelange antisemitische Propaganda auf sie eingewirkt hat – heute den Mob folgen und mitmachen? Wie sähen die Tweets heute aus oder wie hätten sie ausgesehen, wenn es 1938 schon Twitter gegeben hätte.

    Mit A. Stoll ist übrigens dieser „nette“ Zeitgenosse gemeint, der das Fernsehen öfters auch den „Elektro-Juden“ nennt. https://de.wikipedia.org/wiki/Axel_Stoll
    Über den lachen ca. 95% seiner Zuschauer auf YouTube. Gottseidank!

  6. eure aktion steckt voller meta-ebenen. eine davon ist eine (vielleicht unbeabsichtigte) medienkritik. die tweets stören. sie schmerzen. sie sind unangebracht. sie sind unbequem. und somit genau richtig. ich weiß gar nicht, was ich sagen soll, eure aktion macht richtig stumm. danke für ein projekt, dass aus so vielen gründen sehr wichtig ist.

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