Verordnung über eine Sühneleistung der Juden deutscher Staatsangehörigkeit vom 12. November 1938

Die feindliche Haltung des Judentums gegenüber dem deutschen Volk und Reich, die auch vor feigen Mordtaten nicht zurückschreckt, erfordert entschiedene Abwehr und harte Sühne.
Ich bestimme daher auf Grund der Verordnung zur Durchführung des Vierjahresplans vom 18. Oktober 1936 (Reichsgesetzbl. I S. 887) das Folgende:
§ 1
Den Juden deutscher Staatsangehörigkeit in ihrer Gesamtheit wird die Zahlung einer Kontribution von 1 000 000 000 Reichsmark an das Deutsche Reich auferlegt.
§ 2
Die Durchführungsbestimmungen erläßt der Reichsminister der Finanzen im Benehmen mit den beteiligten Reichsministern.
Berlin, den 12. November 1938.
Der Beauftragte für den Vierjahresplan
Göring
Generalfeldmarschall

 

Aufzeichnung des Unterstaatssekretärs Woermann zu den wesentlichen Ergebnissen der Besprechung vom 12. November 1938

1. Arisierung der Wirtschaft soll beschleunigt durchgeführt werden. […]

2. Enteignungen von jüdischem Grundbesitz, Kunstgegenständen, Schmuck, Aktien usw. Frage ist einem kleinen Ausschuß unter Vorsitz Reichsministers Funk überwiesen.

3. Sofortige Prüfung durch zuständige innere Ressorts der Frage der Zwangsarbeit des jüdischen Proletariats. Prüfung der Frage der Beschränkung der Freizügigkeit der Juden (Ghettos?) sowie einer Reihe von Einzelmaßnahmen wie Verbot des Besuchs von Kurorten, Bädern, Wäldern, der Benutzung von Schlafwagen, Besuch deutscher Schulen durch jüdische Kinder usw.

4. Verbot des Besuchs von Theatern, Konzerten, Kinos usw. durch Juden […]

5. Auferlegung einer einmaligen Kontribution von einer Milliarde Reichsmark an die deutschen Juden […]

6. Jüdische Auswanderung soll auf jede Weise gefördert werden.

7. Der durch Aktion gegen Juden letzter Tage entstandene Schaden soll in noch festzulegender Form zu lasten deutscher Juden gehen […]

8. Strengstes Verbot eigenmächtiger Aktionen […]

9. Habe frage der Beteiligung ausländischer Juden angemeldet und Beteiligung Auswärtigen Amts an allen Maßnahmen generell und im Einzelfall sichergestellt. Ausgangspunkt dabei, daß Rücksicht auf Ausland nur zu nehmen ist, wenn vorwiegendes Reichsinteresse dazu zwingt; Zusage der Berücksichtigung vertraglicher Verpflichtungen.

Zit. nach: Hans-Jürgen Döscher: “Reichskristallnacht”. Die Novemberpogrome 1938, München 2000, S. 124-125.

DNB-Bericht über die Pressekonferenz für die Auslandspresse vom 11. November 1938

In einer Pressekonferenz der Vertreter auslaendischer Zeitungen in Berlin hat Minister Dr. Goebbels heute einen Vortrag gehalten, der in Kuerze auch ueber DNB kommen wird. Er gilt als der heute in der Pressekonferenz erwaehnte Kommentar und enthaelt also die Sprachregelung fuer die weitere Behandlung der Judenfrage. Dabei soll, wenn dazu geschrieben wird, an der Hand auslaendischer Pressestimmen und der Reden im Unterhaus das englische Vorgehen in Palaestina besonders eindeutig herausgestellt werden, die Massnahmen gegen die Araber, Haeusersprengungen, Hinrichtungen, Verbannungen und lebenslaengliche Strafen. Es soll weiter – woertlich – in der Presse zum Ausdruck kommen, dass auch, wenn das Unterhaus Wert darauf lege, die Judenfrage in einer Aussprache zu eroertern, der deutsche Reichstag eine Debatte ueber die Greuel in Palaestina herbeifuehren koennte. Jeder kehre vor seiner Tuer.

Zerstörung von Synagogen vor November 1938

Nicht nur während der Novemberpogrome wurden Synagogen zerstört: Unter anderem in Nürnberg und München bereits im Sommer 1938, ganz offiziell, mit Vorwarnung, zur „Stadtverschönerung“.

Die Zerstörung jüdischer Sakralbauten begann aber nicht erst im November 1938. So sind mindestens 67 Synagogen schon vor dem 9.11.1938 von den Nazis geschädet bzw. zerstört worden. Als frühes Beispiel ist die Synagoge in Hildburghausen (Thüringen) zu nennen, die 1933 von den Nazis enteignet und im gleichen Jahr abgerissen wurde. In Hamburg erfolgte 1934 der Abbruch der Synagoge Köhlhofen unter dem Vorwand der Stadtsanierung. 1938, jedoch vor dem Novemberpogrom, wurden mindestens 31 Synagogen zerstört oder geschändet. Im Sommer 1938 sind vier große Gotteshäuser auf Veranlassung der Nationalsozialisten abgerissen worden. Es waren die Hauptsynagogen in München […], Kaiserslautern, Nürnberg und Dortmund.

(Aus: Grellert, Marc: Immaterielle Zeugnisse. Synagogen in Deutschland. Potentiale digitaler Technologien für das Erinnern zerstörter Architektur. Bielefeld 2007. S. 82. Bei google books zum Teil digitalisiert.)

 

Im Folgenden möchte ich den Abriss der vier zuletzt genannten Synagogen kurz zeitlich darstellen:

Die Münchner Hauptsynagoge

Die Münchner Hauptsynagoge am Lenbachplatz befand sich neben dem Künstlerhaus.

Die Hauptsynagoge in München 1889.

Die Hauptsynagoge in München 1889.

Grund genug für Adolf Hitler, ihren Abriss bis zum 8. Juni 1938, dem „Tag der deutschen Kunst“, zu fordern, denn München sollte Hauptstadt der „Bewegung“ werden. So erhielt die Israelitische Kultusgemeinde in München am Beginn des Juni 1938 die Mitteilung, sie müsse das Anwesen der Münchner Hauptsynagoge für 100.000 Reichsmark an die Stadt München abtreten. Wenige Tage später, am 8. Juni, bekam sie die Abrissverfügung, aber folgenden Tag wurde diese in die Tat umgesetzt. Vorher konnte die Gemeinde allerdings die Kultgegenstände noch aus der Synagoge holen und sichern. Zwei weitere Grundstücke in der Herzog-Max-Straße 3 und 5 erhielten mussten sie ebenfalls verkaufen, für  85.000 Reichsmark und wurden von „Lebensborn“ bewohnt, einer von der SS getragener Einrichtung.

Heute erinnert an der Straßenecke Herzog-Max-Straße und Maxburgstraße seit 1969 ein Gedenkstein an die Hauptsynagoge. Der Verkauferlös für die Erweiterung eines Warenhauses für 20,5 Mio. Euro kam dem Bau des Neuen Jüdischen Zentrums auf dem Münchner Jakobsplatz zugute.

 

Die Nürnberger Hauptsynagoge

 

Die Synagoge in Nürnberg.

Die Synagoge in Nürnberg.

In Nürnberg wurde die Hauptsynagoge am Hans-Sachs-Platz mit dem dazugehörigen Gemeindehaus am 10. August 1938 abgebrochen. Hier war es Gauleiter Julius Streicher, für den die Synagoge das Stadtbild vermeintlich verschandeln würde. Daher ordnete bereits im am 15. Juni 1938, kurz nach der Münchner Hauptsynagoge, ihren Abriss an. Dieser zog sich allerdings in Nürnberg über einen Monat hin. Grund waren mehrere Unterbrechungen wegen des Reichsparteitages.

Das Grundstück wurde nicht verkauft, im Zuge der Stadtplanung nach 1945 aber überbaut.

Seit 1988 erinnert aber ein Gedenkstein an die Synagoge.

 

Die Kaiserslauterner Synagoge

Die Kaiserlauterner Synagoge lag an der Fischerstraße (1938 Dr.-Frick-Straße). Auch

Die Synagoge in Kaiserslautern 1890.

Die Synagoge in Kaiserslautern 1890.

hier musste die Synagoge weichen, da sie das Aussehen der Stadt angeblich störte. Die pfälzische Stadt sollte Gauhauptstadt werden und die Paraden der Fischerstraße entlang führen, d.h. auch an der Synagoge vorbei. Mit dem Vorwand, das jüdische Gotteshaus würde den Ausbau der Straße für die Paradenaufmärsche behindern, wurde sie abgerissen. Nachdem am 29. August 1938 ein Abschiedgottesdienst gehalten werden durfte, wurde das Gelände an die Stadt verkauft und anschließend am 31. August abgerissen. Danach erfolgten zwei Sprengungen. ((Es gibt widersprüchliche Daten zu Abriss und Sprengung(en). Die hier wiedergegebene Angaben basieren auf https://www.alemannia-judaica.de/kaiserslautern_synagoge.htm#Die neue Synagoge (1886 bis 1938.))

In der Nachkriegszeit erhielt die jüdische Gemeinde von Kaiserslautern eine Abfindung in sechsstelliger Höhe, in den 1980er Jahren wurde das Grundstück der früheren Synagoge zu einem Platz umgebaut, der treffend Synagogenplatz genannt wurde. Ein Gedenkstein und eine Buchsbaumhecke erinnern an Standort und Grundriss des Gotteshauses.

 

Die Dortmunder Synagoge

Die Synagoge in Dortmund 1905.

Die Synagoge in Dortmund 1905.

Auch in Dortmund musste die Synagoge aus den gleichen Gründen weichen. Ausgerechnet gegenüber der Synagoge bezog die NSDAP der späteren Gauhauptstadt von Westfalen in Quartier. Die jüdische Gemeinde wurde zum Verkauf des Grundstücks gezwungen, das Geld anschließend beschlagnahmt. Nachdem kurz vor den Novemberpogromen, am 19. Oktober 1938, die Kuppel gesprengt wurde, wurde sie kurz vor Ende des Jahres vollständig abgerissen. Ein Gedenkstein und eine Gedenktafel erinnern an ihren früheren Standort.

 

Bildnachweise:

Wolfgang Rieger: Synagogue at Herzog-Max-Strasse in Munich. View from Lenbachplatz (1889). CC pd.

Unbekannt: Nürnberger Synagoge, erbaut 1874. CC pd.

Unbekannt: Synagoge Kaiserslautern 1890. CC pd.

Unbekannt: Deutschland, Dortmund, Synagoge am Südwall, Postkarte von 1905. CC pd.

Erinnerungen von Ilse B. Mann aus Mainz

Wie üblich begab ich mich auf den Schulweg. Ich war jedoch überrascht, so viele Leute auf der Straße zu sehen. Fast immer kamen sie mir aus der Richtung der Schule bzw. der Synagoge entgegen. Die meisten von ihnen sahen glücklich aus, einige lachten.

Plötzlich kam ein älteres Mädchen gerannt und erzählte mir, daß die Synagoge im Flammen stünde und daß ich unverzüglich nach Hause zu meiner Mutter gehen solle. […] Bald stellten wir [Ilse B. Mann und ihre Eltern] fest, daß der Lärm immer näher rückte. Ich sah, wie Leute, die erbeutete Haushaltsgegenstände schwenkten, die Straße hinunterliefen. Dann hieß mich meine Mutter, in den hinteren Teil des Hauses zu gehen, um vor etwaigen Glasscherben sicher zu sein.

Mein Vater kam herein, um sich zu verabschieden. Ich bemerkte, wie blaß er aussah. Er sagte, ich solle meine Hausaufgaben für Englisch machen, eines Tages könne ich die Sprache vielleicht noch gut gebrauchen.

Als nächstes kann ich mich daran erinnern, wie meine Mutter hereinkam, mir ein Köfferchen in die Hand gab und sagte: ‚Geh zu den Schneiders!‘ […]

Ich lebte kurze Zeit bei diesen Freunden wie ein Familienmitglied. Jedoch hielt ich mich dort immer im Haus auf und versteckte mich im oberen Stockwerk, wenn Besuch kam. Ich blieb bei dieser Familie so lange, bis meine Unterlagen kamen, die mir ermöglichten, Deutschland zu verlassen und nach England zu gehen.

Nachdem mein Vater ins Haus zurückgekehrt und von der Polizei mitgenommen worden war, erschien am gleichen Tag etwas später der Mann, der meinem Vater das Geschäft abgenommen hatte und verlangte von meiner Mutter das Auto. Sie sagte ihm, daß mein Vater die Schlüssel und Zulassungspapiere bei sich habe, und wer weiß, wo sich mein Vater befände. Er mußte mit leeren Händen gehen, aber später, bevor meine Eltern Deutschland verließen, bekam er das Auto.

 

Zit. nach Keim, Anton Maria (Hg.): „Als die letzten Hoffnungen verbrannten…“. Dokumentation zu einem Projekt der Stadt Mainz, Mainz 1988, S. 119-120.

Plakat der Münchner NSDAP vom 10. November

Aufruf!

Reichsminister Dr. Goebbels gibt bekannt:
„Die berechtigte und verständliche Empörung des Deutschen Volkes über den feigen jüdischen Meuchelmord an einem deutschen Diplomaten in Paris hat sich in der vergangenen Nacht in umfangreichem Maße Luft verschaft. In zahlreichen Städten und Orten des Reiches wurden Vergeltungsaktionen gegen jüdische Gebäude und Geschäfte vorgenommen.
Es ergeht nunmehr an die gesamte Bevölkerung die strenge Aufforderung, von allen weiteren Demonstrationen und Aktionen gegen das Judentum, gleichgültig welcher Art, sofort abzusehen. Die endgültige Antwort auf das jüdische Attentat in Paris wird auf dem Wege der Gesetzgebung bezw. der Verordnung dem Judentum erteilt werden.“

Volksgenossen! Volksgenossinnen!

Auch bei uns in München hat das Weltjudentum die ihm gebührende Antwort erhalten!

Die Synagoge ist abgebrannt!

Die jüdischen Geschäfte sind geschlossen!

Die frechgewordenen Juden sind verhaftet!

Das nationalsozialistische München demonstriert

gegen das Weltjudentum
und seine schwarzen und roten Bundesgenossen

für die Freiheit und Sicherheit
der Nation und aller Deutschen in der Welt.

Es sprechen: Gauleiter Adolf Wagner und zwanzig Parteiredner.

Zit. nach Hans-Jürgen Döscher: „Reichskristallnacht“. Die Novemberpogrome 1938, München 2000, S. 101.

DNB-Rundruf vom 10. November

Zu den Ereignissen der vorigen Nacht sagte das Propagandaministerium: Im Anschluss an die heute morgen ausgegebene DNB-Meldung koennen eigene Berichte gebracht werden. Hier und dort seien Fensterscheiben zertruemmert worden, Synagogen haetten sich selbst entzuendet oder seien sonstwie in Flammen aufgegangen. Die Berichte sollen nicht allzu gross aufgemacht werden, keine Schlagzeilen auf der ersten Seite. Vorlaeuig keine Bilder bringen. Sammelmeldungen aus dem Reich sollen nicht zusammengestellt werden, aber es koenne berichtet werden, dass auch im Reich aehnliche Aktionen durchgefuehrt worden seien. Einzeldarstellungen darueber sind zu vermeiden. Ueber oertliche Vorgaenge koenne ausfuehrlicher berichtet werden. Dies alles nur auf der zweiten oder dritten Seite. Wenn Kommentare fuer noetig befunden wuerden, so sollen sie nur kurz sein und etwa sagen, dass eine begreifliche Empoerung der Bevoelkerung eine spontane Antwort auf die Ermordung des Gesandtschaftsrates gegeben habe.

Zit. nach: Thomas Goll, Die inszenierte Empörung. Der 9. November 1938, Bonn 2010, S. 55.

Internes Gestapo-Fernschreiben vom 9. November 1938, 23:55 Uhr

An alle Stapo Stellen und Stapoleitstellen – An Leiter oder Stellvertreter
Dieses FS ist sofort auf dem schnellsten Wege vorzulegen.

1. Es werden in kürzester Frist in ganz Deutschland Aktionen gegen Juden insbesonders gegen deren Synagogen stattfinden. Sie sind nicht zu stören. Jedoch ist im Benehmen mit der Ordnungspolizei sicherzustellen, dass Plünderungen und sonstige besondere Ausschreitungen unterbunden werden können.

2. Sofern sich in Synagogen wichtiges Archivmaterial befindet, ist dieses durch
eine sofortige Massnahme sicherzustellen.

3. Es ist vorzubereiten die Festnahme von etwa 20–30.000 Juden im Reiche. Es sind
auszuwählen vor allem vermögende Juden. Nähere Anordnungen ergehen noch im Laufe
dieser Nacht.

4. Sollten bei den kommenden Aktionen Juden im Besitz von Waffen angetroffen werden, so sind die schärfsten Massnahmen durchzuführen. Zu den Gesamtaktionen können
herangezogen werden Verfügungstruppen der SS sowie Allgemeine SS. Durch entsprechende Massnahmen ist die Führung der Aktionen durch die Stapo auf jeden Fall sicherzustellen.

Zit. nach: Thomas Goll, Die inszenierte Empörung. Der 9. November 1938, Bonn 2010, S. 50.

„Dazwischen noch etwas Pogrom“? Zur Kritik an der Form.

Die Kritik, die Twitteruser @trainingsjacke gestern morgen äußerte, ist, zumindest in Fragen von Journalisten, schon einige Male formuliert worden. Sie ist natürlich legitim, wir haben uns vorab Gedanken darüber gemacht und uns dennoch für das Format entschieden.

@9Nov38 ist insofern ambitioniert, dass wir uns, im Gegensatz zu bspw. @9Nov89live, ein Thema ausgesucht haben, in dem es um unermessliches Leid, menschliche Abgründe und letztlich den Weg zum absoluten Zivilisationsbruch geht. Uns ist klar, dass einige Menschen deswegen die etablierten Wege der Information und Vermittlung bevorzugen. Aber mit Büchern, Zeitungsberichten und Fernsehdokumentation erreichen wir einige Teilöffentlichkeiten nicht mehr, und sie haben mediale Grenzen, die Twitter nicht hat. Filme von Guido Knopp haben mehr als 140 Zeichen, aber sie können keine Echtzeit bieten.

Der legitime Vorwurf ist im Kern, dass wir die Abgründe der Pogrome zu banalen Häppchen verkürzen, die zwischen Witzchen und Werbung eingestreut werden. Das können wir nicht verhindern, denn jeder ist für seine Timeline selbst verantwortlich. Wir können nur versuchen, durch sprachliche Mittel eine Ernsthaftigkeit zu erzeugen, die sich auf unsere Follower überträgt. Jeder, der einmal auf „Folgen“ geklickt hat, hat dies freiwillig getan, und damit ist ein gewisses Grundinteresse als gegeben zu betrachten. Gestern haben etwa 1.000 Menschen die Postkarte des Vaters von Herschel Grynszpan im Volltext angeklickt. Wir können nicht sicher sein, dass nicht auch einige Leute aus der merkwürdigen Lust nach faktisch korrektem Grusel darunter sind, aber wir können es auch nicht ändern. Und gegenüber der mittlerweile wichtigsten Vermittlungsform, dem Fernsehen, haben wir im Vergleich zu Zapping und Re-Enactment keine größere Gefahr der Banalisierung.

Blitz-Fernschreiben Heydrichs vom 10. November, 1:20 Uhr

An alle Stapoleit- und Stapostellen, an alle SD.OA. und alle UA.

– Blitz, dringend, sofort vorlegen! –

Dringend sofort dem Leiter oder seinem Stellvertreter vorlegen.

Betrifft: Maßnahmen gegen Juden in der heutigen Nacht.

Auf Grund des Attentats gegen den Leg. Sekr. v.Rath in Paris sind im Laufe der heutigen Nacht – 9./10.11.38 – im ganzen Reich Demonstrationen gegen die Juden zu erwarten. Für die Behandlung dieser Vorgänge ergehen folgende Anordnungen

1.) Die Leiter der Staatspolizeistellen oder ihre Stellvertreter haben sofort nach Eingang dieses Fernschreibens mit den für ihren Bezirk zuständigen Politischen Leitungen – Gauleitung oder Kreisleitung – fernmündlich Verbindung aufzunehmen und eine Besprechung über die Durchführung der Demonstrationen zu vereinbaren, zu der der zuständige Inspekteur oder Kommandeur der Ordnungspolizei zuzuziehen ist. In dieser Besprechung ist der Politischen Leitung mitzuteilen, daß die Deutsche Polizei vom Reichsführer der SS. und Chef der Polizei die folgenden Weisungen erhalten hat, denen die Maßnahmen der Politischen Leitungen zweckmäßig anzupassen wären:

a) Es dürfen nur solche Maßnahmen getroffen werden, die keine Gefährdung deutschen Lebens oder Eigentums mit sich bringen (zB. Synagogenbrände nur, wenn keine Brandgefahr für die Umgebung ist).

b) Geschäfte und Wohnungen von Juden dürfen nur zerstört, nicht geplündert werden. Die Polizei ist angewiesen, die Durchführung dieser Anordnung zu überwachen und Plünderer festzunehmen.

c) In Geschäftstraßen ist besonders darauf zu achten, daß nicht jüdische Geschäfte unbedingt gegen Schäden gesichert werden.

d) Ausländische Staatsangehörige dürfen – auch wenn sie Juden sind – nicht belästigt werden.

2.) Unter der Voraussetzung, daß die unter 1) angegebenen Richtlinien eingehalten werden, sind die stattfindenden Demonstrationen von der Polizei nicht zu verhindern,
sondern nur auf die Einhaltung der Richtlinien zu überwachen.

3.) Sofort nach Eingang dieses Fernschreibens ist in allen Synagogen und Geschäftsräumen der jüdischen Kultusgemeinden das vorhandene Archivmaterial polizeilich zu
beschlagnahmen, damit es nicht im Zuge der Demonstrationen zerstört wird. Es kommt dabei auf das historisch wertvollere Material an, nicht auf neuere Steuerlisten usw. Das Archivmaterial ist an die zuständigen SD-Dienststellen abzugeben.

4.) Die Leitung der sicherheitspolizeilichen Maßnahmen hinsichtlich der Demonstrationen gegen Juden liegt bei den Staatspolizeistellen, soweit nicht die Inspekteure der Sicherheitspolizei Weisungen erteilen. Zur Durchführung der sicherheitpolizeilichen Maßnahmen können Beamten der Kriminalpolizei sowie Angehörige des SD., der Verfügungstruppe und der allgemeinen SS. zugezogen werden.

5.) Sobald der Ablauf der Ereignisse dieser Nacht die Verwendung der eingesetzten Beamten hierfür zuläßt, sind in allen Bezirken so viele Juden – insbesondere wohlhabende – festzunehmen, als in den vorhandenen Hafträumen untergebracht werden können. Es sind zunächst nur gesunde, männliche Juden nicht zu hohen Alters festzunehmen. Nach Durchführung der Festnahme ist unverzüglich mit den zuständigen Konzentrationslagern wegen schnellster Unterbringung der Juden in den Lagern Verbindung aufzunehmen. Es ist besonders darauf zu achten, daß die auf Grund dieser Weisung festgenommenen Juden nicht mißhandelt werden.

6.) Der Inhalt dieses Befehls ist an die zuständigen Inspekteure und Kommandeure der Ordnungspolizei und an die SD-Ober- und Unterabschnitte weiterzugeben mit dem Zusatz, daß der Reichsführer SS. und Chef der Deutschen Polizei diese polizeilichen Maßnahmen angeordnet hat. Der Chef der Ordnungspolizei hat für die Ordnungspolizei einschließlich der Feuerlöschpolizei entspr. Weisungen erteilt. In der Durchführung der angeordneten Massnahmen ist engstes Einvernehmen zwischen der Sicherheitspolizei und der Ordnungspolizei zu wahren.

Der Empfang dieses Fernschreibens ist von den Stapoleitern oder seinen Vertretern durch FS. an das Geheime Staatspolizeiamt – z.Hd. SS- Standartenführer Müller – zu bestätigen.

gez. Heydrich SS-Gruppenführer

Zit. nach: Thomas Goll, Die inszenierte Empörung. Der 9. November 1938, Bonn 2010, S. 50-51.